Schule des Rades

Hermann Keyserling

Schöpferische Erkenntnis

Erster Zyklus:I. Seins- und Könnenskultur

Wahrer Fortschritt

Aber wie soll dies praktisch geschehen? Auf welche Weise kann es gelingen, emanzipiertes Können auf Sein zurückzubeziehen und dieses entsprechend höher auszubilden? Damit ist ein weiteres Grundproblem ausdrücklich gestellt, das uns zu Anfang dieser Betrachtung schon im Negativ entgegentrat: das Problem des wahren Fortschritts. Bloßer Könnens-Fortschritt, so fanden wir, bedeutet keinen wahren, weil solcher nur die Äußerungs­möglichkeit des Lebens betrifft, nicht dieses selbst. Gibt es im Falle dieses überhaupt Fortschritts-Möglichkeit? Hat sein Begriff in wesentlichem Zusammenhang noch Sinn?

Dass es höhere und niedere Stufen des Lebens gibt, bezweifelt niemand. Es gibt große und kleine, tiefe und flache, überlegene und subalterne Menschen im Rahmen des gleichen Volks, der gleichen Zeit, der gleichen Kultur. Die jeweilige Größe, Tiefe und Überlegenheit ist auch unzweifelhaft in jedem Fall eine Frage nicht des Könnens, sondern des Seins. Des letzteren Begriff bestimmten wir zu Anfang: eines Menschen Sein bedeutet seinen persönlichen Kern, der allen Äußerungen zum lebendigen Hintergrunde dient, durch diese hindurchspricht. Worin besteht nun, falls solche besteht, Höherwertigkeit, d. h. Überlegenheit im Sein? Sie besteht darin, dass die Kräfte des Geistes und der Seele in einen tieferen Sinneszusammenhang hineinbezogen erscheinen, als sonst der Fall ist. Die gleichen Dinge bedeuten dem Überlegenen anderes als dem Subalternen. Auf jede tiefere Stufe bezogen, erhalten die gleichen Phänomene einen anderen Sinn und werden folglich zu Sinnbildern von anderem. Bringen wir diesen lebendigen Tatbestand nun auf einen abstrakten Ausdruck, so finden wir, dass der Begriff eines wesentlichen Fortschritts allerdings einen Inhalt hat — nur bezieht dieser sich auf eine andere Dimension als alle nur mögliche Naturveränderung. Stellen wir diese als in der Horizontale belegen dar, so verläuft jener senkrecht zu ihr. Er verläuft also in eben der Dimension, in welcher Sinneserfassung und -verwirklichung sich bewegen. Von hier aus wird nun verständlich, inwiefern äußerer Fortschritt über den inneren nichts besagt und Tiefe, Größe und Überlegenheit sich auf jeder Stufe jenes feststellen lassen (vgl. S. 151). Damit ein innerer Fortschritt stattfinde, braucht sich am Rohmaterial des Ausdrucks grundsätzlich nichts zu ändern. Das Alphabet der Natur (im weitesten Verstand) bleibt im Großen unabänderlich das gleiche; d. h. das Neuhinzukommende bedeutet nichts im Vergleich zur Übermacht des immerdar Fortbestehenden. Aber wie unsere 25 Buchstaben, von Goethe gehandhabt, anderes sagen und bewirken als unter den Händen eines Durchschnittsmenschen, so schafft verschiedene Zentrierung eines gleichen Sinnes-Zusammenhangs jedesmal einen neuen lebendigen Tatbestand. Vom Standpunkt des Geistes kommt es deshalb überhaupt nicht auf den mehr oder weniger großen Reichtum an Buchstaben an, sondern einzig auf das, was sich durch diese ausdrückt. Unter diesen Umständen ist das Äußerliche, in welchem das 19. Jahrhundert allein den Fortschritt suchte, vom Standpunkt wesentlichen Fortschritts aus betrachtet, gleichgültig. Hier handelt es sich nur um eine Verbesserung und Vervollkommnung der Ausdrucksmittel, durch die sich freilich mehr sagen lässt, wofern man mehr zu sagen hat, aber auch nur dann.

So lautet denn die Antwort auf die Frage, wie es gelingen kann, emanzipiertes Können auf Sein zurückzubeziehen, welche Frage die nach der Möglichkeit eines wahren Fortschritts einschließt, grundsätzlich folgendermaßen: Können wird zum Seinsausdruck, wenn das Äußerliche auf einen inneren Sinn zurückbezogen wird; das Sein ist aber ein höherwertiges, je nachdem, wie tieferfasster Sinn sich in ihm konkretisiert. Wessen persönliches Leben Gott zum lebendigen Hintergrunde hat, steht höher als der, dem sein empirisches Ich letzte Instanz ist, welches Höherstehen sich in größerer Belebtheit und Bedeutsamkeit dessen, was er leistet, unzweideutig erweist. Nun noch einen Schritt weiter. Sinn verwirklicht sich so allein, dass er sich ausdrückt; dies muss er entsprechend tun, um voll zu wirken. Deshalb verlangt jeder neue Sinn einen neuen Ausdruck; deshalb beschwört jeder neue Ausdruck einen neuen Sinn. Insofern hat die Vertiefung doch, entgegen dem zuerst Gesagten, an der veränderten Erscheinung einen Exponenten — nur ist es nicht die Veränderung an sich, welche den Fortschritt macht, sondern das, was durch sie zum Ausdruck kommt. Hier lässt sich nun ein grundsätzlicher Zusammenhang feststellen, der für die Lösung unseres heutigen Problems von ausschlaggebender Bedeutung ist.

Wenn Sinn, konkret verstanden, Leben ist und Leben grundsätzlich gleich Beleben, dann bedarf es offenbar desto überlegenerer Kraft, je reicher der zu beseelende Körper ist; dann bedarf es, das gleiche Verhältnis auf den Sinn zurückgedeutet, desto tieferer Sinneserfassung. Überlegenheit beruht allemal darauf, dass das Bewusstseinszentrum dem Schnittpunkt der geistigen Koordinaten näher liegt als beim Subalternen genau so wie auf abstraktem Gebiet die grundlegende mathematische Formel, einmal gefunden, die Lösung aller ihr subordinierten Sonderprobleme vorwegnimmt. Sofern also unser Leben deshalb äußerlich geworden ist, weil seine Außenseite sich zu reich entwickelt hat, so kann der bloß technische Fortschritt nur dadurch in einen wesentlichen hinübergeleitet werden, dass der Reichtum auf größere Tiefe zurückbezogen wird. So lässt sich das Verhängnis dieser Zeit am folgenden Bilde sinngemäß verdeutlichen. Kulturen gleichen Bäumen; wie bei diesen die Wurzeln desto tiefer ins Erdreich dringen müssen, je höher die Kronen gen Himmel ragen, so verlangt jede reicher werdende Kultur desto tiefere Verwurzelung im Geist. Die unsrige gleicht heute einem Baum, dessen Wurzeln nicht korrelativ zum hohen Wachstum tiefer eindrangen; dementsprechend ist die Krone verdorrt. Sobald nun jene aber ihr Wachstum neu beginnen, könnte auch diese wieder neu ausschlagen. Das Problem der Neuverknüpfung von Seele und Geist, der Kongruierung von Sinn und Ausdruck, der gegenseitigen Angleichung von Sein und Können lässt sich in diesem Zusammenhang auch dergestalt fassen, dass es einer neuen Synthese von Reichtum und Tiefe bedarf.

Hermann Keyserling
Schöpferische Erkenntnis · 1922
Erster Zyklus:I. Seins- und Könnenskultur
© 1998- Schule des Rades
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